becoming unreal

2022, Mixed-Media-Videoinstallation, bestehend aus 4K-Video, 14‘38“, Farbe, Ton, Plexiglas, Digitaldruck auf Alu-Dibond, 150 × 100cm, Palme

“As global forms are articulated in specific situations — or territorialized in assemblages — they define new material, collective, and discursive relationships.” Stephen J. Collier/ Aihwa Ong

 

Das dämmrige Foyer öffnet sich zu einer gläsernen Curtain Wall hin. Die vorgeblendete Fassade aus geometrischen Ornamenten lässt Abendlicht hinein. Ein anderer Durchblick ist durch zwei netzartig durchbrochene, spitz zulaufende Fenster zu sehen, die Licht und Luft regulieren. Wieder ein anderer Fassadenblick von Innen zeigt vertikale schmale Lichtbänder mit geometrischen Ornamenten an den verbreiterten Seitenflügeln. Dazwischen Details der baulichen Eigenheiten, an die sich die Kamera langsam annähert. In längeren Einstellungen tastet sie die Innen- und Außenhaut prägnanter Bauten ab. Ihnen gemeinsam ist die Abwesenheit von Leben. Menschenleer, still und auratisch werden die Ansichten vom Kamerablick eingefangen. Einzig ein fast unmerklicher Drone-Sound, der langsam anschwillt, glockiger und düsterer wird, ein leises Unbehagen mittransportiert, begleitet die Bilder, die von den markanten Innenräumen zu opaken, semi-transparenten aber spiegelnd glatten Hochhausfassaden wechseln.

 

Die ersten Minuten der Videoarbeit Becoming Unreal von Viktor Brim, die während seiner Residency in Istanbul entstanden ist, fängt neuere Architekturen und Bauprojekte in der Metropole am Bosporus ein, darunter auch moderne Moscheen, den neuen Flughafen Istanbul Airport und Hotelbauten. In den darauffolgenden Sequenzen wird erkennbar, dass sich reale Gebäude mit digital gebauten Räumen abwechseln und die Wahrnehmung Kippmomente erzeugt: etwa zwischen dem existierenden Hotelkorridor mit Stadtblick und dem gestalteten Hotelzimmer samt Fernsehscreen, auf dem Hochhausprojekte, aber auch ein animiertes Video zu Fluchtwegen bei Notfällen zu sehen sind. Bei dem weitläufigen in seiner gebauten Perfektion surreal wirkenden Foyer mit Lichtblenden in den Wandverkleidungen und erkennbaren Oberflächentexturen sind es erst die symmetrisch angeordneten Palmentopfpflanzen mit den gut sichtbaren Schatten und der Lichteinfall einer imaginären Berglandschaft im Hintergrund, die den Raum als digital konstruierten erkennen lassen.

 

Futuristische Deckendetails leiten zu modernistischen Miniaturmodellarchitekturen über, die vor einem in der Software Blender gebauten Bergpanorama mit Wolken und Nebel schweben. Das Wahrzeichen des Flughafens wirkt mit signifikantem Leucht-Tower fast verloren vor dem düsteren und dramatisch inszenierten Berghintergrund. Das Modellieren neuer Bauten driftet hier in eine hyperreale, abstrahierte Welt in luftigen Höhen ab. Sie wirkt wie eine Projektionsfolie, vor der die enthobenen Architekturen als signature buildings freigestellt sind. Das Kippen ins Hyperreale dieser Planungen verwendet Viktor Brim subtil und zugleich markant, da seine Bildsprache mit der sich wiederholenden Rhetorik und Ästhetik von digitalen Imagefilmen wie auch modularisierten Bauszenarien spielt. Sie legen ihr Augenmerk auf die Investitionen in neue Prestigeobjekte oder Spekulationsblasen ganzer Viertel, die in großer Geschwindigkeit Städte transformieren wie auch gentrifizieren, das heißt vor allem die Immobilienpreise steigen lassen und oftmals soziale Aspekte außer Acht lassen. Dabei interessiert sich der Künstler für die global operierenden, ökonomischen und kapitalistischen Prozesse in ihrer Komplexität, wie sie Collier und Ong mit der Studie zu Assemblagen als Schauplätze der technologischen, politischen, und wertschöpfenden Veränderung problematisiert haben. 1 Sein Projekt hat, wie er im Gespräch berichtet, mit dem megalomanischen Infrastrukturprojekt des von Nicolas Grimshaw gebauten Istanbuler Flughafens begonnen. Dies wurde bezeichnenderweise als „Moschee der Mobilität“2 bezeichnet und deutet damit auf die neoliberale, hyperkapitalistische Unterschiedlosigkeit der Bauten hin – ob Hotels oder Gotteshäuser – einzig die durch Form oder Ornament erzeugte Wiedererkennbarkeit zählt hier, wie Viktor Brim dies mit Becoming Unreal als visuelles Essay auf den Punkt bringt.

 

Der marxistische Philosoph Fredric Jameson hatte bereits in den 1980ern in seiner Analyse des Spätkapitalismus und Postmodernismus diese immer schneller werdenden Produktions- und Verwertungsprozesse analysiert und dabei eine enge Verbindung zwischen ästhetischer Gestaltung, Architektur und Ökonomien ausgemacht, insofern als die Mechanismen von Vergabe, Expansion und Wertschöpfung der Bautätigkeit zunehmend Teil einer globalen Wirtschaft werden, die sichtbar und virtuell Transformationsprozesse im gebauten Raum erzeugen.3 Wie die leeren und frei von menschlichen Interventionen dargebotenen Räume dokumentieren, geht diese Entwicklung weg vom Subjekt zu in Dimensionen wachsenden und zunehmend abstrahierten, quasi ,unvorstellbaren Hyperräumen‘,4 wie sie bei Brim mit den digital gebauten Architekturen zur Anschauung gebracht werden.

 

Dies zeigen sowohl die realen, als auch die futuristischen, animierten Bilder: Das Sphärische eines verwaisten Platzes mit prägnanter Wandornamentik im Abendlicht oder die schwebenden Lichtpünktchen der Deckenleuchte in der großen Halle einer imposanten Rundbogenfenstermoschee gleiten schließlich von einem rätselhaften Raum mit einem weißen, verschlossenen Portal in eine gewundene, spiegelglatte Wabenarchitektur, die sich zu einer Piazza hin öffnet. Ihr durchbrochenes, weißes Kuppeldach zeigt Lichtbrechungen, einen durchweg blauen Himmel und erinnert entfernt an Jean Nouvels milliardenschweres Großbauprojekt des Louvre Abu Dhabi mit seiner geschichteten Stahlbaukuppel und der in Material und Technik hochwertigen Gestaltung. Die Investition in eine solche Architektur funktioniert als Vermögenswert, und wie die Soziologin Saskia Sassen betont hat, transformiert sie die Stadt durch viele dieser Anlagen, mit denen spekuliert werden kann. Der Wert dieser Gebäude, aber auch die mit ihnen verbundenen digitalen Technologien verändern die unabhängig von ihren lokalen Kontexten existierenden globalen Finanzströme und bringen diese in Bewegung.5

 

Viktor Brim hat sich mit eben diesem Global Financial Centres Index befasst, in den solche großangelegten infrastrukturellen Projekte nach bestimmten Kriterien aufgenommen werden, die Städte zu globalen Marktführern werden lassen. Er führt nicht nur mit der Videoarbeit Becoming Unreal die komplexe und rasche Veränderung in etwas Nicht-Greifbares, Unwirkliches visuell eindringlich vor, sondern weitet dies auch auf eine Rauminstallation aus: Im Walzwerknull ist die Arbeit als Projektion auf eine frei im Raum schwebende Glasscheibe projiziert. An der gegenüberliegenden Stirn- und Seitenwand sind je zwei Fotoarbeiten mit den im Film gezeigten Modellansichten platziert. Die Topfpflanze aus der digital gebauten, virtuellen Umgebung wirft ihren Schatten in den Ausstellungsraum und bringt damit gleichzeitig die Frage auf, wo wir uns als Betrachter*innen befinden: Sind wir nicht bereits mitten in dieser hybriden, urbanen Wirklichkeit?

 

Lilian Haberer

becoming unreal